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Lernen in Begegnung

Alles wirkliche Leben ist Begegnung
Lernen in der Begegnung

Martin Buber, einer der großen jüdischen Philosophen des 20. Jahrhunderts (1878-1965), prägte den Begriff der Begegnung und betonte die zentrale Bedeutung des Dialogs. Seine Philosophie des Dialogs, dass Menschen sich erst durch authentische Begegnungen mit anderen Menschen vollständig entfalten können, bietet eine wichtige Perspektive für den Prozess des interreligiösen Lernens.

Lernen ist nicht nur auf formale Bildungsinstitutionen, wie z.B. die Schule, beschränkt. Vielmehr können Menschen durch Begegnungen mit anderen auf ganz neue Weise lernen und wachsen. Buber betonte, dass in einer Begegnung zwischen zwei Menschen die Grenzen des eigenen Selbst überwunden und eine Verbindung auf einer tieferen Ebene entstehen könne. Diese Verbindung eröffne die Möglichkeit, auch sich selbst besser zu verstehen und neue Erkenntnisse zu gewinnen.

In einer Begegnung entsteht – im Idealfall – ein Raum, in dem ein tiefer Austausch stattfinden kann. Es geht nicht nur darum, Informationen auszutauschen, sondern vielmehr darum, sich gegenseitig zuzuhören, sich zu bemühen, das Gegenüber zu verstehen und empathisch aufeinander einzugehen. Indem sich Menschen aufeinander einlassen und ihre Erfahrungen und Perspektiven austauschen, erweitern sie den eigenen Horizont und lernen, die Welt aus neuen Blickwinkeln zu betrachten.

Das Lernen durch Begegnungen erfordert Offenheit. Es bedeutet, sich auf andere einzulassen, ohne vorgefasste Urteile. Es erfordert die Fähigkeit, die eigene Meinung zu hinterfragen und sich von neuen Ideen und Sichtweisen herausfordern zu lassen.

Für Martin Buber ist „Leben … Begegnung zwischen Ich und Du.“ In solche Begegnungen bringen sich Menschen ganz ein: als Personen mit ihren Erfahrungen und Auffassungen. Es geht nicht darum, das Gegenüber zu definieren, sondern in seiner Ganzheit zu verstehen.

Solche Begegnungen und Gespräche zielen nicht auf eine Übereinkunft, in der die Differenzen aufgehoben sind, sondern auf eine „Verständigung über die ‚Sache‘, die unterschiedliche Sichtweisen einschließen.“

In der Begegnung von Juden und Christen bedeutet dies einen Verzicht auf die Vorstellung, es gebe nur einen Weg zum Heil. Dies bedeutet, dass Jüdinnen nicht zum Christentum konvertieren müssen und Christinnen nicht zum Judentum, um zu Gott zu kommen.

Begegnungen ermöglichen nicht nur Lernen über andere Menschen, Kulturen und Religionen, sondern auch über sich selbst. Im Kontakt mit anderen treten die je eigenen Perspektiven und Überzeugungen zu Tage. Die Reibung zwischen den verschiedenen Lebenserfahrungen und Perspektiven kann dazu anregen, sich selbst zu reflektieren und der eigenen Identität stärker bewusst zu werden.

Lernen durch Begegnungen ist ein lebenslanger Prozess. Jede Begegnung bietet potentiell die Möglichkeit, etwas Neues zu lernen und zu wachsen. Es ist ein dynamischer und interaktiver Austausch, bei dem beide Seiten gleichermaßen von der Begegnung profitieren können.

Prof. Dr. Ursula Rudnick, Studienleiterin des Vereins „Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen e.V.“ und Beauftragte für Kirche und Judentum im Haus Kirchlicher Dienste der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers

Begegnungslernen aus jüdischer Sicht


Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg

Begegnungslernen aus jüdischer Sicht

Lernen in Begegnung. Launch der „Orte der Begegnung mit jüdischem Leben“ im Portal „Jüdisches Niedersachsen online“, Do, 7. September 2023 / 21. Elul 5783, 11.00 Uhr
Ada-und-Theodor-Lessing-Volkshochschule, Hannover, Burgstr. 14

In der Mischnah, dem um das Jahr 200 verschrifteten Korpus der Mündlichen Torah, gibt es im Traktat „Sprüche der Väter“ eine Aussage über die Art von Lernen, auf der Segen ruht (mAvot 3:6):

R. Chalafta, Sohn Dosa’s, aus Kfar Chananjah spricht: Wenn zehn zusammensitzen und sich mit der Torah beschäftigen, so weilt die göttliche Gegenwart unter ihnen, denn es heißt (Ps. 82, 1): ‚Gott steht in der Gottesgemeinde’.

Die Beweisführung erfolgt anhand verschiedener Schriftverse. Das Zitat aus Psalm 82,1 stützt sich auf den Begriff „Gemeinde“ und meint hier den Minjan, der sich aus zehn mündigen Juden und Jüdinnen zusammensetzt.

Woher weiß ich, dass selbst bei fünf [dies der Fall ist]? Da es heißt (Amos 9, 6): ‚Seinen Bund hat Er auf Erden gegründet’.

Das Wort für „Bund“ ist hier dasselbe wie für eine Hand, die sich ja in fünf Finger gliedert.

Woher weiß ich, dass selbst bei Dreien [die göttliche Gegenwart in ihrer Mitte weilt]? Da es heißt (Ps. 82, 1): ‚In der Mitte von Richtern richtet Er’.

Das ist einfache Mathematik: Wenn jemand zwischen anderen stehen soll, muss es sich mindestens um eine Gruppe von dreien handeln.

Woher weiß ich, dass selbst bei Zweien? Da es heißt (Mal. 3, 16): ‚Da besprachen sich Gottesfürchtige Einer mit dem Andern, und der Ewige merkte auf und hörte’.

Dieser Vers versteht sich von selbst, denn eine direktere Begegnung als „Einer mit dem Andern“ kann es nicht geben.

Woher weiß ich, dass auch bei Einem? Da es heißt (Exod. 20, 21): ‚An jedem Orte, wo ich meines Namens gedenken lasse, werde ich zu dir kommen und dich segnen’.

Der Begriff „Begegnungslernen“ ist aus jüdischer Sicht eigentlich eine Tautologie, denn Lernen findet ausschließlich in Begegnung statt. Und zwar hier in Begegnung von Menschen. Fast als „Trostpreis“ mutet die letzte Aussage an, dass auch das Lernen eines Menschen allein gesegnet sei – hier gibt es immerhin die Begegnung mit dem Text.

Warum ruht auf dem gemeinsamen Lernen solch ein Segen? Ein Lernprozess findet nur in Auseinandersetzung statt, in der Konfrontation mit anderen Menschen, mit ihrer Persönlichkeit und mit ihren Lebenserfahrungen, mit ihren Sichtweisen und Vorkenntnissen, die mir ein neues Verständnis eines Textes oder einer Sache ermöglichen. Sie fordern mich heraus, oftmals weit jenseits der Grenzen meiner Komfortzone, und sie regen mich an, neue Perspektiven anzunehmen oder meine eigenen Positionen klarer zu formulieren. In einer Echokammer gibt es kein Lernen – nur bestätigt zu werden in dem, was man schon immer meinte, bewirkt keinen Fortschritt, keine Bewegung. Lernen ist etwas Dynamisches, man muss schon irgendwie vom Fleck kommen wollen. Notfalls muss dafür auch ein Ortswechsel vorgenommen werden (mAvot 4:14):

Rabbi Nehorai lehrte: Ziehe aus, um in einer Gemeinschaft leben zu können, wo die Torah studiert wird. Rede dir nicht ein, dass sie zu dir kommt. Nur dank deiner Gefährten wird sie dir erhalten, aber auf deine eigene Einsicht stütze dich nicht.

Wer in Lerngruppen arbeitet, weiß aber, dass der Lernfortschritt dort keine einfache und selbstverständliche Sache ist. Es gibt viele Hindernisse, die nicht offen zutage liegen, jedoch tiefe psychische Prozesse jedes Gruppenmitglieds berühren. Was wir uns häufig nicht so klarmachen: Meist kommen die Einzelnen zu einer Lerngruppe zwar aus Interesse, aber bei fast allen arbeiten unterschwellig auch solche Fragen wie: Wie werde ich von den anderen gesehen? Was denken die von mir? Kann ich mich trauen, was zu sagen oder werden die andern lachen? Und im Ergebnis haben wir oft die gleichen Personen, die sich am Gespräch beteiligen, fragen, kommentieren, provozieren, und wir haben die große Mehrheit von Leuten, die schweigen und die es heiß und kalt überläuft, wenn sie sich dann doch mal zu Wort melden. Mit diesen Ängsten müssen wir umgehen, als Lernende und als Lehrende, und mit ein bisschen didaktischer Wachheit gelingt es auch, Menschen in eine aktive Teilhabe am Lernen einzubeziehen. Die „Sprüche der Väter“ meinen dazu (mAvot 2:5):

„Ein Schüchterner wird nicht lernen, und ein aufbrausender Mensch wird nicht lehren können.“

Wer sich nicht traut, sich einer Begegnung auszusetzen, verpasst wichtige Einsichten. Und wer sich nicht selbst zurücknehmen kann, keine Geduld aufbringt und die Wege des Lernens diktieren will, sollte besser nicht unterrichten.

Aber nicht nur die Lernenden sind voller Ängste, auch die Lehrpersonen sind nicht so selbstsicher, wie es mitunter den Anschein hat. Die Mischnah (mBerachot 4:2) erzählt, dass Rabbi Nechunja ben Hakkanah für gewöhnlich bei seinem Eintritt in das Bet Midrasch, in das Lehrhaus, und beim Herausgehen ein kurzes Gebet verrichtete.

Man fragte ihn: Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem Gebet? Er erwiderte: Bei meinem Eintritt bete ich, dass kein Irrtum durch mich veranlasst werde; und bei meinem Weggehen danke ich Gott für meinen Teil.

Also ein Dank des Lehrers für die Gelegenheit, mit Studierenden in einen Austausch zu treten und Anteil zu nehmen an ihrer Entwicklung.

Das Grundmodell jüdischen Lernens ist allerdings die Chevruta: Das sind zwei Menschen, die einander gegenüber oder nebeneinander sitzen und sich gemeinsam einen Text erarbeiten. Da kann es durchaus sehr kontrovers zugehen, mit viel Widerrede und auch dem Versuch, besonders originelle oder abseitige Erklärungen zu finden. Doch was die Methode nicht erlaubt, ist Passivität. Beim Lernen zu zweit kann man sich nicht verstecken, man bekommt eine direkte Ansprache, muss reagieren, erkennt neue Aspekte eines Stoffs. Dinge, die nicht verstanden wurden, werden gleich bearbeitet, sonst geht es nicht weiter im Text. Es ist ein egalitäres Lernen, denn sobald eine Seite dominant und die andere passiv wird, funktioniert die Chevruta nicht mehr. Und Chevruta-Lernen ist eine ganzheitliche Begegnung, eben mit einer anderen Person, mit ihrem Charakter und ihrer Lebenserfahrung. Die Lebensumstände von beiden Studienpartner:innen gehen in die Lernsituation ein, denn entlang des Textes tauscht man sich durchaus auch über persönliche Probleme aus. Ein Chevruta ist nicht einfach nur ein Kommilitone – in der Regel werden über diese Form des Lernens jahrelang anhaltende tiefe Beziehungen begründet, denn man war in einem sehr intensiven und respektvollen Austausch miteinander.

Im Judentum ist Lernen kein Selbstzweck. Es geht nicht um Bildung im Sinne von Wissensaneignung, sondern um Bildung der Persönlichkeit. Und es geht um die Erkenntnis eines gottgewollten Weges für unser Leben – das ist Torah. Darum ist das Torahstudium im Judentum nicht nur ein intellektuelles Vergnügen, sondern zuerst eine religiöse Pflicht. Das Lernen schlägt eine Brücke zum Geschehen am Sinai und verbindet mit unzähligen Generationen vor uns.

Im Torahabschnitt Nitzawim-Wajelech, den wir in dieser Woche lesen, trägt Moses in seiner Abschiedsrede dem Volk auf (Dtn 31,12-13):

Versammle das Volk, die Männer und die Frauen, und die Kinder und deinen Fremdling, der in deinen Toren, damit sie hören und damit sie lernen und den Ewigen, euren Gott, fürchten, damit sie all die Worte dieser Lehre bewahren und tun.

Es gibt keine Ehrfurcht, kein Bewahren und Tun der Torah ohne Lernen.

Der Traktat „Sprüche der Väter“ eröffnet mit dieser Traditionslinie bis zurück zum Sinai (mAvot 1:1):

Moses hat die Torah auf dem Sinai empfangen und sie dem Josua überliefert, und Josua den Ältesten, und die Ältesten den Propheten, und die Propheten haben sie den Männern der großen Versammlung überliefert. Diese sprachen drei Dinge aus: Seid vorsichtig beim Urteilsspruch, stellt viele Schüler aus, und macht einen Zaun um die Torah.

Seither lernt eine jede Generation von der vorangehenden, und gibt selbst ihre Einsichten weiter. Im Sinne der Weitergabe von Traditionen ist das Lernen religiöser Überlieferungen zunächst vertikal ausgerichtet: von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft. Aber das gemeinsame Lernen findet statt auf einer horizontalen Ebene zwischen zwei oder mehr Menschen mit ihren je konkreten Persönlichkeiten und Lebensumständen. An dieser Schnittstelle findet Vergewisserung und Erneuerung von Tradition statt. Dieser Prozess des Lernens ist von Offenheit geprägt: Er verlangt nur den Willen zur Begegnung mit anderen Menschen, mit Texten und Überlieferungen. Er setzt nicht eine bestimmte Spiritualität oder religiöse Praxis voraus.

Wenn wir davon ausgehen, dass Lernen ausschließlich in Begegnung erfolgt – mit Texten, mit Traditionen, mit Geschichte und Geschichten, mit Lebensweisen, und vor allem in Begegnung mit anderen Menschen –, was fangen wir dann an mit dem folgenden Verdikt, ebenfalls aus dem Traktat „Sprüche der Väter“ (mAvot 3:7)?

Rabbi Schimon spricht: Wer auf dem Wege geht und lernt und unterbricht sein Lernen und sagt: „Wie schön ist dieser Baum! — wie schön ist dieser Acker!“, dem rechnet es die Schrift an, als hätte er sein Leben verwirkt.

Diese Aussage stammt aus der Zeit, bevor die sogenannte Mündliche Torah verschriftet wurde. Das Lernen von Überlieferungen war bis dahin im Wesentlichen ein Auswendiglernen, ein Hersagen von Texten wieder und wieder, und auch in einem enormen, uns heute kaum noch erreichbaren Umfang. Im Mischnah-Hebräisch ist das Wort für „lernen“ und für „wiederholen“ identisch. Aber es ging nicht allein um die Gedächtnisleistung, sondern um ein Repetieren der Texte, bis diese von einem Besitz ergreifen und man sich in einem ständigen Dialog mit ihnen befindet. Wer sich in diesem Prozess ablenken und unterbrechen ließ, riskierte, den Faden zu verlieren. Heute, da wir mit Hilfe von Datenbanken und Suchmaschinen einen viel breiteren Zugriff auf Quellen und Material haben, besteht diese Gefahr nicht mehr. Vielmehr sollten wir heute hoffen, dass auch religiöse Gemeinschaften ein stärkeres Umweltbewusstsein entwickeln statt nur auf den Himmel fixiert zu sein. Es wäre also beim Wiederholen unserer Überlieferungen auch mal ganz gut, stehen zu bleiben und zu sagen: „Wie schön ist dieser Baum! – Wie schön ist dieser Acker!“, um sich zu einer Begegnung mit der Welt und ihren Problemen anregen zu lassen. Und nebenbei gesagt eignen sich lokale und globale Umweltthemen vorzüglich als Ausgangspunkt für ein interreligiöses Lernen, denn kein anderes Thema hat einen dermaßen universalistischen Ansatz, der uns alle anspricht und konfessionelle Unterschiede gegenstandslos werden lässt.

Vielleicht sollten wir uns an dem orientieren, was Schimon ben Soma, ein Gelehrter von Anfang des 2. Jahrhunderts, sagte (mAvot 4:1):

Ben Soma spricht: Wer ist weise? Wer von jedem Menschen lernt, denn es heißt (Ps. 119,99): „Von Allen, die mich belehrten, bin ich weise geworden, denn deine Zeugnisse sind mein Gespräch.“

Wenn zuvor viel von einem Lernen die Rede war, das im Lehrhaus, stattfindet, findet hier eine Weiterung statt: Wir verlassen das Bet Midrasch und gehen hinaus. Der Unterrichtsraum ist nun die Welt, die ganze Welt und vor allem unser Gegenüber. Jeder Person, der wir begegnen, sollen wir in einem Schülerverhältnis gegenübertreten. Jedes Gespräch, auch mit einem Menschen außerhalb des eigenen Kontextes, kann uns ungeahnte Wahrheiten offenbaren. Wir sollen wissbegierig sein, bewusst des eigenen Unwissens und offen für die Weisheiten anderer. Die Begegnung lehrt uns, die unendliche Vielfalt Gottes und des göttlichen Ebenbildes zu ahnen und zu schätzen. Unsere konfessionellen Grenzen überschreitend, lernen wir in der Begegnung, uns selbst als Teil einer universalen Familie zu begreifen.
Im Gegenüber, in jedem Ebenbild Gottes, erkennen und ehren wir Gott; da ist kein Platz für Überheblichkeit und Ignoranz (mAvot 4:3):

Verachte keinen Menschen, und halte kein Ding für unmöglich; denn es gibt keinen Menschen, der nicht seine Zeit hätte, und kein Ding, das nicht seine Stätte fände.

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Unterrichten

Judentum unterrichten

Der Lehrplan sieht Unterricht über „Judentum“ im evangelischen und katholischen Religionsunterricht vor. Wie unterrichte ich jedoch eine Religion, die nicht die eigene ist und über die im Studium nur selten fundiertes Wissen vermittelt wurde? Hinzu kommt, dass die wenigsten Lehrer*innen jüdische Feste allenfalls aus der Literatur kennen. Darüber hinaus zieht sich Antijudaismus wie ein roter Faden durch die Geschichte der Kirchen von der Antike bis in die Gegenwart. Es gibt also viele Stolperfallen

Pauschalisierung und Stereotypen vermeiden

„Das“ Judentum gibt es so wenig, wie es „das“ Christentum oder „den“ Islam gibt. Jüdische Religion und Kultur sind lebendige und somit beständigen Veränderungen unterworfene Traditionen: Das rabbinische Judentum der Antike ist ein anderes Judentum als das biblische Israel. Das neuzeitliche europäische und nordamerikanische Judentum unterscheidet sich erheblich von dem des Mittelalters. Schließlich spielt das kulturelle und religiöse Umfeld, in dem jüdische Kultur sich entfaltet, eine wichtige Rolle: Jüdisches Leben im muslimischen Jemen sieht anders aus als im chinesischen Kaifeng, im galizischen Polen, im säkular-christlich geprägten Deutschland oder in den stärker religiös geprägten USA. Wird vom Judentum gesprochen, so ist deutlich zu machen, auf welches Judentum sich die Aussagen beziehen. Der historische Kontext ist so präzise wie möglich zu benennen.

Das neuzeitliche westeuropäische Judentum besteht – seit dem 19. Jahrhundert – aus vielfältigen religiösen Strömungen. Je nach Land variieren die Strömungen, werden unterschiedliche Akzente im Umgang mit der Tradition gesetzt. Die Hauptströmungen sind das orthodoxe, konservative und liberale Judentum. Sie unterscheiden sich vor allem in ihrem Umgang mit der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, und in ihrer Haltung zur Kultur der Umgebung. Wird über jüdische religiöse Traditionen gesprochen, ist deutlich zu machen, von welcher Tradition die Rede ist: Beziehen sich die Aussagen auf das orthodoxe oder liberale Judentum?

Zugleich ist deutlich zu machen, ob es sich bei den Aussagen um normative Vorschriften oder deskriptive Aussagen handelt. Ein Beispiel: Die – orthodoxe – Halacha schreibt vor, das Auto am Schabbat stehen zu lassen. Die Mehrzahl der Juden in Deutschland hält sich freilich nicht an diese Bestimmung. Es ist irreführend, wenn Bestimmungen der Halacha ohne weiteres als Beschreibung eines Ist-Zustandes dargestellt werden.

Wichtig ist außerdem, dass „Judentum“ – im Unterschied zum Christentum – nicht ausschließlich als Religion wahrgenommen wird. „Judentum“ ist mehr als eine Religion. Dies kommt z.B. in der traditionellen jüdischen Definition zum Ausdruck, wer Jude ist: Jude, Jüdin ist, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum übergetreten ist. Jüdisch-Sein ist also nach diesem Verständnis nicht mit dem Für-wahr-Halten bestimmter Glaubenssätze verbunden.

Unangemessen: Musealisieren, Exotisieren und Idealisieren

Rabbiner Ernst Stein warnt vor einer Musealisierung von Juden und Judentum: „Ich will nicht der Indianer, die ‚edle Rothaut‘ der Bundesrepublik sein, dessen Werte man erkannte, ausstellt, lehrt, preist, nachahmt, nachdem man sie fast vernichtet, ihre Kultur und Vergangenheit zerstört hat.“

Eine Musealisierung kann sich darin zeigen, dass vom Judentum in der Vergangenheitsform gesprochen wird. Sie kann sich aber auch darin äußern, dass es als eine hermetisch abgeschlossene, fremde Kultur dargestellt wird.

Damit verbunden ist die Gefahr der Exotisierung, die vor allem durch Bilder geschieht. Jüdisches religiöses Leben wird häufig durch Fotos aus dem Haredi-Judentum, der sogenannten Ultraorthodoxie illustriert, obwohl weniger als 5% dieser Richtung angehören. Michael Bodemann beobachtete: „Je orthodoxer, je ‚chassidischer‘ Juden erscheinen, desto interessanter werden sie auch. Der geheimnisvolle rätselhafte Ritus konstituiert das Jüdische als Exotik: Juden mit Tallit und Tefillin (Gebetsmantel und Gebetsriemen) an der Klagemauer; betende Juden in den Synagogen, mit den Gesängen des Kantors; eine jüdische Familie am Freitagabend oder beim Pesach-Seder mit dem väterlichen Segensspruch vor dem Essen …“

Rabbiner Stein plädiert für das Wahrnehmen des Judentums vor Ort: „Letztlich muss das Wissen aus ihm selber kommen und zwar ‘lokal’ aus ihm selber.“ Denn „das Judentum“, wie es so leichtfertig dahergesagt wird, gibt es nicht, sondern es hat überall seine lokalen Eigenheiten. Eine Darstellung jüdischer Bräuche in Israel oder den USA kann die Gefahr einer Exotisierung verstärken. Bei der Darstellung z.B. des Schabbats sollte nicht die Feier im ultraorthodoxen Mea Schearim im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage, wie Juden vor Ort Schabbat feiern.

Dies bedeutet, jüdisches Leben in Deutschland auch als Teil deutscher Kultur sichtbar zu machen. Jüdisches Leben existiert im Rheinland seit der römischen Besiedlung in vorchristlicher Zeit – in Niedersachsen seit dem Mittelalter. In diesem Zusammenhang ist die Kontinuität jüdischer Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart zu betonen. Dies richtet sich zum einen gegen Vorstellungen, für die das Judentum mit der Ankunft des Christentums gleichsam aufhört zu existieren, und zum anderen gegen Tendenzen, sich bei der Darstellung des Judentums auf die Zeit des Nationalsozialismus zu beschränken.

Auch eine Idealisierung des Judentums ist zu vermeiden. Jüdisches religiöses Leben in Deutschland – oder den USA – ist ebenso wenig eine „heile Welt“, wie es christliches Familienleben oder christlicher Gemeindealltag ist.

Was Tun – methodische Tipps

Stichwortartig benenne ich – in Anknüpfung an den Religionspädagogen Clive Erricker – einige methodische Grundsätze, die zum Gelingen des interreligiösen Begegnungslernens beitragen:

  • Nutzen Sie originale Quellen, um eine authentische Begegnung mit den Inhalten der Religion zu ermöglichen.
  • Arbeiten Sie nicht allein mit Texten, sondern verwenden Sie auch Hör- und Bildmedien.
  • Bieten Sie eine Vielfalt von bildhaften und bildlichen Darstellungen, um Stereotype zu vermeiden.
  • Wechseln Sie zwischen Texten mit theologischen Inhalten und Texten, die individuelle Erfahrungen zeigen.
  • Nutzen Sie die Vielfalt von Methoden aktiven Lernens.
  • Achten Sie darauf, dass Erfahrungsübungen nicht das religiöse Empfinden von Angehörigen dieser Religion verletzen. So ist z.B. kein Pessach-Fest in der Schule zu inszenieren.
  • Erkunden Sie das Judentum vor Ort, an Orten der Begegnung und der Erinnerung.
  • Lassen Sie es zu, dass in der Beschäftigung mit der jüdischen Tradition Erfahrungen und Impulse für die eigene Existenz gewonnen werden.

Lernen in der Begegnung mit dem Judentum ist eine anspruchsvolle Aufgabe und stellt Lehrende und Lernende immer wieder neu vor Herausforderungen. Entlastend und ermutigend stellt Rabbi Elasar in den Sprüchen der Väter fest: „Es ist nicht an dir, die Aufgabe zu vollenden, aber Du bist nicht frei, von ihr zu lassen.“ (Sprüche der Väter 2.21)
 
Prof. Dr. Ursula Rudnick, Studienleiterin des Vereins „Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen e.V.“ und Beauftragte für Kirche und Judentum im Haus Kirchlicher Dienste der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers

Vorbereitung Synagogenbesuch

Zur Vorbereitung des Besuchs einer Synagoge (Hinweise für Unterrichtende)
  • Der Besuch einer Synagoge ist eine gute Möglichkeit, mit Jüdinnen und Juden in Kontakt zu kommen und einen Einblick in jüdisches Gemeindeleben zu bekommen.
  • Ein Synagogenbesuch kann am Anfang oder am Ende einer Beschäftigung mit dem Judentum sinnvoll sein.
  • Synagogen sollten zwar nach jüdischem Verständnis jederzeit für Begegnung und Gebet geöffnet sein. Dies ist aber aus Sicherheitsgründen zumeist nicht der Fall. Auch deshalb ist eine Voranmeldung unbedingt notwendig.
  • Setzen Sie sich mit einem oder einer Verantwortlichen der Gemeinde in Verbindung.
  • Klären Sie, was die Gemeinde Ihrer Gruppe anbieten kann: Eine Führung? Ein Gespräch? Oder?
  • Möglicherweise entspricht das, was Ihnen vor Ort geboten wird, nicht den Erwartungen Ihrer Gruppe. Auch darum sollten Sie mit ihrer Gruppe den Besuch vorbereiten.
  • Die Gruppe sollte sich vorab über die Geschichte der Gemeinde und der Synagoge informieren. (Evtl. Referate erarbeiten lassen.)
  • Sammeln Sie vorab in Ihrer Gruppe Kenntnisse und Meinungen über jüdisches Leben in Deutschland.
Zum Verhalten in der Synagoge
  • Allgemein gilt natürlich das, was für alle anderen Gotteshäuser gilt ­ sie sind kein Museum. Es gilt Rücksicht zu nehmen auf die Gemeindeglieder.
  • Grundsätzlich gilt für alle Teilnehmenden: Wenn Sie unsicher sind, ob ein Verhalten angemessen ist: einfach fragen!
  • Fotografieren ist meist nicht erwünscht, das kann aber durch Fragen geklärt werden.
  • Männliche Besucher sollen eine Synagoge nur mit Kopfbedeckung betreten. Manchmal kann man vor Ort eine Kippa ausleihen.

Schritte zur Erschließung eines Synagogen-Gebäudes (Fragen für Schüler*innen)

Synagogen geben Zeugnis davon,

  • was der jüdischen Gemeinde an ihrem Glauben und in ihrem Gemeindeleben wichtig ist,
  • wie eine jüdische Gemeinde sich zur Zeit der Erbauung selbst verstand, und
  • wie die jüdische Minderheit in der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft lebte und lebt.
1. Von außen
  • Vergegenwärtige dir: In welcher Lage zum Stadtzentrum steht das Gebäude?
  • Was liegt in seiner Nachbarschaft?
  • Sagt die Lage der Synagoge etwas über die Stellung der Gemeinde in der Gesellschaft aus?
  • Betrachte das Gebäude von verschiedenen Seiten und halte deine Eindrücke fest.
  • Überprüfe, ob es Gemeinsamkeiten mit gegenwärtiger oder ehemaliger Architektur (öffentliche Gebäude, Kirchen usw.) in der Umgebung gibt.
2. Von innen
  • Das Synagogeninnere weist in der Regel bestimmte typische Elemente auf, die jedoch in jeder Synagoge anders gestaltet sein können. Bevor du sie identifizierst, lass den gesamten Raum auf dich wirken und halte fest, wodurch diese Wirkung erzielt wird.

Mache dir dann zu den folgenden Punkten kurze Notizen, die ihr in der Gruppe besprechen könnt:

  • Suche nach Hinweisen dafür, dass eine Synagoge nicht nur ein Haus des Gebets, sondern auch der Versammlung und des Austauschs ist.
  • Überprüfe, ob es einen Schriftzug (meist hebräisch) gibt. Was steht da? Und was bedeutet das in diesem Raum?
  • Überprüfe, ob es bildliche Schmuckelemente im Raum gibt und versuche gegebenenfalls, sie zu deuten.
  • Männer und Frauen sitzen zusammen oder getrennt. Manchmal haben Frauen und Mädchen einen eigenen Bereich, z. B. auf einer Empore. Auch daran erkennt man, ob die Gemeinde zur Zeit des Baus eher liberal oder eher orthodox war.
  • An der Ostwand werden in einem kunstvoll gestalteten Schrank (Toraschrein) die Tora-Rollen aufbewahrt. Oft ist er mit Symbolen verziert. Notiere sie und stelle Vermutungen über ihre Bedeutung an.
  • Aus den Torarollen wird im Gottesdienst von einem erhöhten Ort (hebr. Almemor) aus an einem Pult (hebr. Bima) vorgelesen. Deute die Stellung von Almemor bzw. Bima im Raum.
  • Oft gibt es als Symbol der Gegenwart Gottes eine Lampe, die immer brennt (Ewiges Licht).

Notiere dir zum Abschluss alles, was du nicht verstehst oder zuordnen kannst, um dich in der Gruppe darüber auszutauschen!

Zusammengestellt von Dr. Martin Heimbucher und Prof. Dr. Ursula Rudnick nach einem Arbeitsblatt in: Ingrid Grill-Ahollinger, Sebastian Görnitz-Rückert, Andrea Rückert, Tanja Gojny (Hg.), Ortswechsel PLUS 9 – „In Kontakt“. Evangelisches Religionsbuch für Gymnasien – Ausgabe Bayern für Lehrplan PLUS, Claudius Verlag München 2021.

Flyer

Hier finden Sie den Faltflyer „Orte der Begegnung mit jüdischem Leben“.
Sie können ihn downloaden oder per E-Mail über info@orte-der-begegnung.de bestellen.

Adressen und Links

Weitere Begegnungsmöglichkeiten mit jüdischem Leben

Meet a Jew
www.meetajew.de

Institutionen

Zentralrat der Juden in Deutschland
www.zentralratderjuden.de

Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen K.d.ö.R.
www.lvjgnds.de/willkommen.html

Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen K.d.ö.R.
www.liberale-juden-nds.de

Informationen zum jüdischen Leben in den Medien

Schalom – Jüdisches Leben heute
Informative 7 Minuten zum Hören am Vorabend des Schabbat
www.deutschlandfunk.de/schalom-100.html

Jüdische Allgemeine | Wochenzeitung für Politik, Kultur, Religion und Jüdisches Leben
www.juedische-allgemeine.de

Informative Literatur

Marx, Dalia: Durch das jüdische Jahr, Leipzig 2021
Eine Einführung aus liberaler Sicht

Berger, Joel: Gesetz – Ritus – Brauch. Einblicke in jüdische Lebenswelten, Heidelberg 2019
Eine Einführung aus orthodoxer Sicht

Weisband, Marina/Havemann, Eliyah: Frag uns doch!
Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben, Frankfurt a. M. 2021

Kunstausstellung

Ostfriesland-Haggadah
50 Bildtafeln zum Pessaschfest von Ricardo Fuhrmann und Daniel Jelin
www.ostfriesland-haggadah.de/index.php

Materialien und Informationen für Unterrichtende

Jüdinnen in Deutschland nach 1945
Bundeszentrale für politische Bildung
www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/318092/juedinnen-in-deutschland-nach-1945

ANDERS DENKEN – Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit
Informationen, Bildungsmaterialien und Best-Practise-Beispiele
www.anders-denken.info

Sharing Worldviews
Interaktive, internationale Plattform, auf der auch Unterrichtsmaterialien angeboten werden.
www.sharing-worldviews.com

Fortbildung für Lehrkräfte

Zusatzqualifikation für interreligiöses Begegnungslernen erwerben
an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
www.ph-heidelberg.de/zq-interreligioeses-begegnungslernen

Ansprechpartner*innen in den Kirchen,
die Rat und Unterstützung in der Vor- und Nachbereitung
von Begegnungen geben können

Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers
Apl. Prof. Dr. Ursula Rudnick
Referentin für Kirche und Judentum
E-Mail: ursula.rudnick@evlka.de
Telefon: +49 511 1241-434 

Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig
Dr. Christoph Kumitz-Brennecke
Vorsitzender Arbeitsgemeinschaft Kirche und Juden
E-Mail: christopher.kumitz-brennecke@lk-bs.de
Telefon: +49 5331 802-161

Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg
Tom Oliver Brok
Beauftragter für das Arbeitsfeld Kirche und Judentum
E-Mail: brok@lambertikirche-oldenburg.de
Telefon: +49 441 8 31 61

Evangelisch-reformierte Kirche
Marvin Weigel
Vorsitzender Ausschuss Juden und Christen
E-Mail: marvin.weigel@gmail.com
Telefon: +49 5921 7094524

Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe
Dr. Alexandra Eimterbäumer
Theologische Referentin
E-Mail: Theo.Referat@lksl.de
Telefon: +49 5722 960 123

Bistum Hildesheim
Katharina Freudenberger
Referentin für Ökumene und Interreligiösen Dialog
E-Mail: katharina.freudenberger@bistum-hildesheim.de
Telefon: +49 512 307-310

Bistum Osnabrück
Dr. Michael Schober
Diözesanbeauftragter für interreligiösen Dialog
E-Mail: m.schober@bistum-os.de
Telefon: +49 54 318-246 

Bischöflich Münstersches Offizialat in Vechta
Stefanie Röhll
Referentin mit Schwerpunkt Ökumene und interreligiöser Dialog
E-Mail: stefanie.roehll@bmo-vechta.de
Telefon +49 4441 872-213

Orte der Begegnung

Dieses Projekt wird von den evangelischen Landeskirchen, den katholischen Bistümern, den jüdischen Landesverbänden sowie von weiteren Institutionen in Niedersachsen getragen.